Potenziale in der virtuellen Ökonomie
Die Trennung zwischen Funktion und Inhalt geht der Virtualität voraus. Die virtuelle Ökonomie konzentriert sich auf die Funktion. Damit werden alle ökonomischen Eigenschaften neu interpretiert. Zur Funktion der Bezahlung tauschen Dienstleister Datensätze aus, nicht Geld im physischen Sinne. Die Funktion des Handels ist der Austausch von Bestellungen ohne Güter zu bewegen. Geschäftspartner stehen sich nicht gegenüber, sondern besuchen ihre Webseiten oder tauschen E-Mails aus. Bedürfnisse werden mit Marketing erzeugt und richten sich auf den Zugang zu einer Gemeinschaft. Die Herstellung findet in virtuellen Unternehmen statt, die fremde Güter kombinieren. Wissen wird verteilt und dadurch vermehrt, Arbeit wird zerteilt und hiermit vermindert.
Die Akteure in der virtuellen Ökonomie suchen aus dem gesellschaftlichen Umfeld die Potenziale, die sich mit der neuen Technik realisieren lassen. Sie übernehmen die Aufgaben und Wertschöpfungen aus den drei etablierten Sektoren oder generieren mit der Technik neue Potenziale, die bisher nicht ökonomisch bewertet wurden. Dazu gehören die Freizeit der privaten, ehrenamtlichen oder unentgeltlichen Tätigkeiten und der Austausch von Know-how und Informationen. Das Aufspüren der neuen Potenziale ist ein kreativer Akt, der außerhalb der etablierten Strukturen neue Aktionsräume findet, neue Gebiete besiedelt und neue Strukturen begründet.[1] Neue Betätigungsfelder werden erschlossen, nutzbar gemacht und mit den bekannten Methoden der Ökonomie bewertet.
Die virtuelle Ökonomie ist ein offenes System, sie greift beständig Ressourcen aus anderen Ebenen ab wie der Natur, der Gesellschaft, den Innovationen der Wissenschaft und den daraus abgeleiteten Techniken wie dem Web. Dabei ist es nicht nur ein kleines Rinnsal von Ressourcen, die der virtuellen Ökonomie zugeführt werden und deren Größe mit den wenigen Prozenten oder Promille technischen Fortschritts korreliert. Die passende Symbolik ist ein breiter Strom von Nutzungsmöglichkeiten, technischem Wissen und Erfahrungen, Zugang zu Kunst, Bildung, sozialen Kontakten und anderen ursprünglich nicht-ökonomischen Gütern.
Auf der Basisinnovation des Webs gedeiht eine Flut technischer Neuerungen, die bekannte und etablierte Prozesse effizienter abbilden und neue Bedürfnisse hervorrufen. Das sind die Potenziale, zu denen virtuelle Güter angeboten und bewertet werden und auf die sich die bekannten ökonomischen Modelle, Kalkulationen und Bilanzierungen anwenden lassen. Die Vielzahl von Anwendungen, Nutzungen, Vermittlungen auf Märkten und neuen Ertragsmodellen begründen die Potenziale der virtuellen Ökonomie.
Die ökonomischen Erfolge sucht der Unternehmer im Neuland der Möglichkeiten der Web-Technik und entdeckt dort potenzielle Märkte, Zielgruppen oder Synergien, effizientere Produktion und Kostenreduktionen für konventionelle Prozesse. In der virtuellen Ökonomie lassen sich die Potenziale und die eigene Position gut abschätzen. Der Unternehmer muss sich nicht den unsichtbaren Händen der Märkte aussetzen.
Die S-Kurve symbolisiert die Ausschöpfung der Potenziale. Zu Beginn geht es mühsam voran, dann stellt sich eine sprunghafte Steigerung der Potenzialnutzung ein und nach dem Wendepunkt der S-Kurve wird es immer schwieriger das Ergebnis zu steigern. In der ökonomischen Bewertung wird das Ergebnis als Ertragsrelation definiert (Verhältnis der Wertschöpfung zu den Absatzzahlen, Bestellungen, Nutzern oder allgemein zu den Zielaktionen). Bei der Annäherung an den Wendepunkt sinken die Grenzerträge, die Grenzkosten steigen. Am Wendepunkt sind beide gleich und der Gewinn pro abgesetzte letzte Einheit oder Zielaktion beträgt Null. Daraus leitet der Unternehmer ab, dass er sich anderen Potenzialen zuwenden soll. Entweder sucht er nach neuen Besuchern und Interessenten von einer günstigeren Marketingquelle, bietet in seiner Zielgruppe andere Produkte mit neuen Potenzialen an oder lagert Dienste aus und reduziert hierdurch seine Grenzkosten.
Illustrationsbox Potenzialkurve
In der virtuellen Ökonomie trifft das Unternehmen auf neue Märkte, neue Zielgruppen, Wettbewerber und Chancen. Es gilt, neue Potenziale zu erschließen, und diese Aufgabe lässt sich nicht ohne Weiteres mit den etablierten Methoden der Ökonomik lösen, weil die konventionelle Ökonomie unter den Annahmen eines vollständigen Wettbewerbs, vollständiger Information und preisabhängiger Entscheidungen agiert.
Im Web-Business ist die Exponentialfunktion zur Ausschöpfung des Potenzials (P) eine adäquate Modellierung der Randbedingungen:
Mit P = Potenzial, t = Wendepunkt, b = Steigung, w = Normierungsgröße (Wettbewerber), x = Ereignisse
Sie hat die grafische Visualisierung einer S-Kurve: In der Ökonomie wird meist die Region um den Wendepunkt der Sättigungskurve betrachtet; dort ist unter Rentabilitätsgesichtspunkten die interessanteste Region. Die Aktivitäten tragen deutlich zur Nutzung der Potenziale des Unternehmens bei, sie generieren Ergebnisse, die zu den Ursachen (Aktionen) in einer normierten Relation stehen und nach ihrer Effizienz unterschiedlich geschichtet sind.
Abbildung Potenzialkurve in der Ökonomie
Diese Entwicklungslinie beginnt vor dem Wendepunkt der logistischen Sättigungskurve. In der konventionellen Ökonomie wird hauptsächlich dieser Teil der Potenzialkurve verwendet. Bei der Nutzung von Ressourcen lehnt er sich an das zweite Goossen’sche „Gesetz“ an. Dieses besagt, dass der Nutzen eines Gutes mit der Menge des Konsums abnimmt. Die Entsprechung auf der Unternehmensseite fokussiert die Entwicklung der gesamten Wertschöpfung aus einer Ressource, einem Teilmarkt, einer Kundengruppe oder einem Marktpotenzial eines Gutes. Um die Position auf der Potenzialkurve des Ertrages oder der Wertschöpfung genauer zu bestimmen, wird der sogenannte „Grenzertrag“ als Steigerung ermittelt. Der Grenzertrag bestimmt die erste Ableitung der Sättigungskurve des Ertrags.
Die Rentabilität wird in vielen ökonomischen Modellen als das Verhältnis des Gewinns zum Kapital berechnet – mit unterschiedlichen Wertgrößen im Zähler und Nenner. Dieser Ansatz ist in der virtuellen Ökonomie unbrauchbar, da das Kapital nur eine untergeordnete Rolle spielt. Das Kapital steht je nach Betrachtungsweise als Eigenkapital oder Gesamtkapital im Nenner, die Erträge, Gewinne oder EBIT (Ertrag vor Steuern) im Zähler. Diese Wertgrößen übergeben die Mengengrößen, die für eine Potenzialbetrachtung oder Ressourcennutzung die entscheidenden Signale liefern.
Die S-Kurve wurde schon bei der sektoralen Aufsplittung der Ökonomie und der Entstehung des vierten Sektors verwendet. Sie gibt die kumulierten Werte an, denn das Potenzial ist ein Bestand, der schrittweise erschlossen, abgebaut oder besiedelt wird.
Der Unternehmer muss die Schritte in seiner Entwicklung planen. Er stellt sich die Frage, ob der nächste Schritt mehr oder weniger Gewinn einbringt als der letzte. Das ist die Frage nach den Wachstumsmöglichkeiten innerhalb der Potenziale. Die Möglichkeiten werden mit der Spiral-Analyse ausgelotet. Sie ermittelt anhand der Grenzwerte, ob weiteres Potenzial erwartet wird oder die Ressourcen in andere Aktionsräume umgeleitet werden.
Im Marketing wird die Klickrate der Besucher aus den Suchmaschinen als Kontrollgröße herangezogen, um daraus die Anzahl der Zielaktionen, die Roherträge und variablen Kosten abzuleiten. Aus dem Wachstum der registrierten Teilnehmer auf einer Web-Plattform als Kontrollgröße kann das Potenzial für eine neue Software ermittelt werden.
Bei Beurteilung der Wachstumsstrategie beobachtet der Anbieter im Web-Business, wie die Grenzwerte seiner Kontrollgrößen zur Ausschöpfung des Potenzials zunächst sinken und nach dem Wendepunkt wieder steigen. Die erste Ableitung der S-Kurve zur Potenzialnutzung ist der häufig zitierte Lebenszyklus eines Gutes. Die Veränderung des Gewinns (oder der Wertschöpfung) wird auf die abgesetzte Menge bezogen, die resultierende Kurve über den Gewinn je abgesetzte Einheit des Gutes bestimmt den Lebenszyklus. Die Zeit ist weder bei der Potenzialkurve noch beim Lebenszyklus eine bestimmende Größe und wird deshalb nicht auf der x-Achse abgetragen.
In der alten ökonomischen Lehre wurde das Kapital gebunden und der Boden aufgeteilt, die Strukturen gefestigt und die Positionen verteidigt. Die Maschinen dominierten in der Industrialisierung die Denkweise, die Wirtschaft selbst funktionierte wie eine Maschine. In der postindustriellen Ökonomie wird der Fluss der Entwicklungen zum Paradigma und löst das alte statische Prinzip der Bestandsnutzung ab.[2] Die Zeit verliert ihre Funktion als unabhängige Variable in ökonomischen Modellen, wie sie auch in den Naturwissenschaften ihre Bestimmung als Verursacher und Taktgeber einbüßt.[3]
Illustrationsbox Lebenszyklus der Potenzialnutzung
Der Wendepunkt der logistischen Funktion des Potenzials entspricht dem Zenit einer Glockenkurve, da die Steigung am Wendepunkt ihren höchsten Wert erreicht und anschließend abnimmt. Die Glockenkurve bestimmt eine ökonomische Interpretation, sie wird als Lebenszyklus der Güter verstanden, der analog zur Wertschöpfung verlaufen soll. Die Glockenkurve bezeichnet die erste Ableitung der Sättigungskurve:
Mit P = Potenzial, b = Steigung, a = b * ()[1]
In ökonomischen Zusammenhängen erhält die erste Ableitung das Präfix „Grenz-“, wodurch die Begriffe „Grenzkosten“, „Grenzertrag“ und “Grenznutzen“ entstehen. Der Grenzgewinn ist die Steigerung des Gewinns an der Grenze:
Mit G`= Grenzgewinn, G = Gewinn, B = Besucher
In ihrer allgemeinen Form lassen die Grenzwerte eine Orientierung zu, an welcher Position das Unternehmen in der Nutzung oder Entwicklung seiner Potenziale steht.
Abbildung Lebenszyklus der Güter
In Anwendung dieser theoretischen Überlegungen auf das Web-Business finden sich Entscheidungshilfen zu der Ausweitung einer Strategie in dem bestehenden Potenzial oder der Suche nach neuen Potenzialen. Beispielsweise lässt sich prüfen, ob eine Website weiterhin für die Suchmaschinen optimiert wird oder der Kauf von qualifizierten Besuchern aus der Zielgruppe vorangetrieben wird. Beide Marketingvarianten haben ihre eigene Sättigungskurve in ihrem Potenzial, der Webmaster steht vor der Entscheidung, in welches Potenzial er weiteren Aufwand investiert. Die Ergebnisse und freien Potenziale werden ganz unterschiedlich sein, je nachdem, an welchem Punkt der Sättigungskurve jede Variante steht.
[1] Die Formulierung zur ersten Ableitung der Wachstumsfunktion in Potenzialen ist analog zu Schwarze (vgl. Schwarze 2000: 58 ff.).
Diese Entwicklung wird in der Ökonomie typischerweise in den folgenden Phasen beschrieben:
- Innovationsphase
- Wachstumsphase
- Sättigung
- Abschwung[4]
Der allgemeine Verlauf gilt für einzelne Güter, Unternehmen und ganze Wirtschaftssektoren. Der vierte Sektor ist in der Aufbauphase. Unternehmen im vierten Sektor sind in der Wachstumsphase, der gesamte Sektor steht am Beginn seines ökonomischen Lebens. Die Musikträgerbranche ist im Abschwung, ebenso wie die Zeitungen, der Katalogversand und viele persönliche Beratungsdienste. Handwerksbetriebe, Schwerindustrien, Grundstoffindustrien und landwirtschaftliche Betriebe werden konzentriert, verlegen ihre Standorte oder gehen im Wettbewerb unter. Ökonomisch ausgedrückt fallen die Grenzgewinne oder die Grenzkosten steigen in den etablierten Sektoren.
Im vierten Sektor kommen neue Güter mit sinkenden Grenzkosten oder steigenden Grenzgewinnen hinzu. Auf der Suche nach einer erfolgreichen Strategie für das Web-Business werden Potenziale recherchiert und Versuche mit neuen Gütern angestellt, in denen die spezifischen Vorteile des Mediums inkorporiert sind und die im Wettbewerb mit den etablierten Branchen überlegen sind. Für jedes neue Gut im Web-Business versucht der Innovator herauszufinden, in welchem Stadium des Lebenszyklus sich sein Angebot jeweils befindet. Daraus werden die Strategien und Optimierungsmethoden abgeleitet.
Das Web-Business revolutioniert viele Aufgaben im Marketing, weil die Kommunikation und die Informationsverarbeitung die Vorteile des Webs besonders effizient nutzen und in seine Geschäftsmodelle einbauen können.[5] Die Suche nach Marketingpotenzialen, neuen Ertragsmodellen und die Optimierung innerhalb der Potenziale nehmen deshalb einen Schwerpunkt in der ökonomischen Analyse des Web-Business ein.
[1] So jedenfalls hat Ilja Prigogine die Entwicklung beschrieben, der daraus auch die Potenziallinie als S-Kurve gefunden und begründet hat (vgl. Prigogine 1988: S.136-144).
[2] Nicolas Georgescu-Roegen interpretiert die wirtschaftlichen Erklärungsmodelle mit den Gesetzen der Thermodynamik und dem abgeleiteten Entropie-Satz neu (vgl. Roegen 1971: S. 254 ff.).
[3] Vgl. ebd.: S. 130-140
[4] Das S-Kurven Konzept als Symbol für den Technologielebenszyklus wurde von Arthur D. Little begründet und von Richard N. Foster verfeinert. Er wendete das daraus abgeleitete Phasenmodell für die strategische Unternehmensführung an (vgl. Günther 2010: S. 100 f.).